Montag, 29. August 2011

Hasen und Hamster

Eines Tages schmeißt du den Job hin. Und zwar praktisch. Theoretisch hast du ihn ja schon vor Monaten hingeschmissen, und zwar an dem Punkt, wo du nicht nur keine Arbeitsmoral übrig hattest, sondern, wo es dir dann auch egal war, dass deine Vorgesetzten es gemerkt haben.

Hättest du nur wahrgenommen, was du dir selbst die ganze Zeit zu sagen versucht hast: Das Phantomklingeln nachts, dass dir bei Radiosendungen die Telefonstimmen der Anrufer plötzlich unangenehm waren, wie deine Stimme immer monotoner wurde und dein Gesicht an deiner Arbeitsnische immer länger, und – das Schlimmste von allem – wie du gedacht hast, dass alle Menschen in Deutschland so wären, wie die, mit denen du telefonierst. Hättest du das wahrgenommen, dann hättest du dich und deine sich nicht regenerierenden Nervenzellen schnell aus dem Callcenter befördert. Du hättest die Tatsachen um dich herum beobachten sollen. Deine Kollegen waren keine schlechten Menschen, aber noch bevor du auch so geworden bist wie sie, hättest du merken müssen, dass sie wie Roboter reden, wenn sie telefonieren. Wenn der Fernseher während der Arbeit lief, hättest du gesehen, dass sie sich über betrogene Frauentausch- und Mitten-im-Leben-Gestalten dort lediglich lustig machen und nicht mal ein Tröpfchen Empathie empfinden; dieses fehlende Tröpfchen hätte dich skeptisch machen müssen. Und als du gesehen hattest, wie ernst sie ihre Aufgabe – das telefonische Verkaufen von Produkten aus Dauerwerbesendungen, zu überteuerten Preisen und Portokosten – nehmen, hättest du nicht nur die Alarmglocken, du hättest Hurricane-Warnsirenen hören müssen. Und spätestens als die sensible Theaterwissenschaft-Studentin und die alternative Poetry-Slam-liebende Veganerin den Laden nach kürzester Zeit verließen, spätestens dann hättest du auf deine Intuition hören müssen, die dir sagte, dass du etwas moralisch fragwürdiges machst.

Aber du hast gekämpft. Gegen Windmühlen. Die Kunden haben nicht plötzlich die Tugend der Höflichkeit erlernt, die Produkte wurden nicht besser oder zumindest ihr Preis angemessener, die Werbung nicht weniger penetrant und die Kollegen haben auch nicht damit begonnen, ihr Handeln zu reflektieren. Nur du hast dich ein Jahr lang beleidigen und unterbrechen lassen, warst der Sündenbock der Kunden und der Vorgesetzten, musstest den berechtigten sowie den belanglosen Unmut beider Parteien ausbügeln, hast deine eigene Verzweiflung ignoriert. Du hast Vorurteile gegenüber Menschen mit Dialekten entwickelt, dann Vorurteile gegenüber Menschen bestimmten Alters, bestimmter Herkunft, bestimmter Region und dann gegenüber allen anderen Menschen. Und du hast dich nicht getraut zu glauben, dass du – ja auch du - dir zu schade für einen Job sein kannst, wie die angehende Theaterwisenschaftlerin und die Veganerin. Bist du nun arrogant, weil du dich für besser als deine ehemaligen Kollegen hältst? Und bist du nicht eigentlich irgendwo verachtenswert, weil du das inkonsequenterweise erst nach einem Jahr eingesehen hast?

Du hast versucht tapfer zu sein, aber du bist es nicht, du bist ein Angsthase. Du hattest Angst vor einer leeren Geldbörse und auch vor pöbelnden Kunden. Doch am meisten Angst – und das spricht eigentlich für dich – hattest du vor dem, was dieser Job aus dir machen wollte: einen verbitterten Misanthropen. Du bist sensibel. Du hasst es, dich ungerecht behandelt zu fühlen. Du hasst es, ein Fußabtreter zu sein. Du hasst es, den Menschen auf ihre Rüpelhaftigkeit nicht mit Süffisanz begegnen zu können. Damit bist du ganz und gar ungeeignet für ein Callcenter. Und Schande über dich, dass du es erst jetzt merkst.

Ein bisschen neidisch bist du schon auf die anderen, die dort weiterhin ihr Geld verdienen können. Vielleicht brauchen sie es nur dringender als du. Du wünschst dir auch, du könntest, wie ein Hamster im Laufrad, weiterhin in diesem Job bleiben, aber du bist nicht tapfer genug, um neben ihnen um die Wette auf der Stelle zu treten, und zu sehen, wie die Wand daneben sich niemals ändert und wie die selbe Speiche mit dem roten Fleck immer wieder an dir vorbeikreist. Vielleicht haben sie dich zum Schluss auch dafür verachtet, dass deine Stimme deine Stimmung verraten hat und deine Stimmung einfach niedergeschlagen war. Aber dir ist das egal, du willst nicht einmal sauer auf sie sein. Du lehnst dich zurück und wartest auf den Augenblick, wenn du sie verachtest, weil ihnen ihr Job anscheinend ernsthaft gefällt und auf den Augenblick, wenn du sie bemitleidest, weil sie anscheinend vergessen haben, dass es Jobs außerhalb des Callcenters gibt, Jobs, die keine Laufräder sind.

Eines Tages schmeißt du den Job hin; und dann wirst du, als der sensible Mensch der du bist, Existenzängste haben, du wirst dich wieder auf die Suche machen, du wirst dich wieder irgendwo als nervöser Neuling einarbeiten müssen, du wirst unsicher sein und nicht tapfer genug, da zu bleiben wo du warst wo du hinter dem Gedanken stehen musst, Menschen abzuzocken. Du wirst dich trauen, ein Angsthase zu sein.

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