Eines Tages schmeißt du den Job hin. Und zwar praktisch. Theoretisch hast
du ihn ja schon vor Monaten hingeschmissen, und zwar an dem Punkt, wo du nicht
nur keine Arbeitsmoral übrig hattest, sondern, wo es dir dann auch egal war,
dass deine Vorgesetzten es gemerkt haben.
Hättest du nur wahrgenommen, was du dir selbst die ganze Zeit zu sagen
versucht hast: Das Phantomklingeln nachts, dass dir bei Radiosendungen die
Telefonstimmen der Anrufer plötzlich unangenehm waren, wie deine Stimme immer
monotoner wurde und dein Gesicht an deiner Arbeitsnische immer länger, und –
das Schlimmste von allem – wie du gedacht hast, dass alle Menschen in
Deutschland so wären, wie die, mit denen du telefonierst. Hättest du das
wahrgenommen, dann hättest du dich und deine sich nicht regenerierenden
Nervenzellen schnell aus dem Callcenter befördert. Du hättest die Tatsachen um
dich herum beobachten sollen. Deine Kollegen waren keine schlechten Menschen,
aber noch bevor du auch so geworden bist wie sie, hättest du merken müssen,
dass sie wie Roboter reden, wenn sie telefonieren. Wenn der Fernseher während
der Arbeit lief, hättest du gesehen, dass sie sich über betrogene Frauentausch-
und Mitten-im-Leben-Gestalten dort lediglich lustig machen und nicht mal ein
Tröpfchen Empathie empfinden; dieses fehlende Tröpfchen hätte dich skeptisch
machen müssen. Und als du gesehen hattest, wie ernst sie ihre Aufgabe – das
telefonische Verkaufen von Produkten aus Dauerwerbesendungen, zu überteuerten
Preisen und Portokosten – nehmen, hättest du nicht nur die Alarmglocken, du
hättest Hurricane-Warnsirenen hören müssen. Und spätestens als die sensible
Theaterwissenschaft-Studentin und die alternative Poetry-Slam-liebende
Veganerin den Laden nach kürzester Zeit verließen, spätestens dann hättest du
auf deine Intuition hören müssen, die dir sagte, dass du etwas moralisch
fragwürdiges machst.
Aber du hast gekämpft. Gegen Windmühlen. Die Kunden haben nicht plötzlich
die Tugend der Höflichkeit erlernt, die Produkte wurden nicht besser oder
zumindest ihr Preis angemessener, die Werbung nicht weniger penetrant und die
Kollegen haben auch nicht damit begonnen, ihr Handeln zu reflektieren. Nur du
hast dich ein Jahr lang beleidigen und unterbrechen lassen, warst der Sündenbock
der Kunden und der Vorgesetzten, musstest den berechtigten
sowie den belanglosen Unmut beider Parteien ausbügeln, hast deine eigene
Verzweiflung ignoriert. Du hast Vorurteile gegenüber Menschen mit Dialekten
entwickelt, dann Vorurteile gegenüber Menschen bestimmten Alters, bestimmter
Herkunft, bestimmter Region und dann gegenüber allen anderen Menschen. Und du
hast dich nicht getraut zu glauben, dass du – ja auch du - dir zu schade für
einen Job sein kannst, wie die angehende Theaterwisenschaftlerin und die
Veganerin. Bist du nun arrogant, weil du dich für besser als deine ehemaligen Kollegen
hältst? Und bist du nicht eigentlich irgendwo verachtenswert, weil du das
inkonsequenterweise erst nach einem Jahr eingesehen hast?
Du hast versucht tapfer zu sein, aber du bist es nicht, du bist ein
Angsthase. Du hattest Angst vor einer leeren Geldbörse und auch vor pöbelnden
Kunden. Doch am meisten Angst – und das spricht eigentlich für dich – hattest
du vor dem, was dieser Job aus dir machen wollte: einen verbitterten Misanthropen.
Du bist sensibel. Du hasst es, dich ungerecht behandelt zu fühlen. Du hasst es,
ein Fußabtreter zu sein. Du hasst es, den Menschen auf ihre Rüpelhaftigkeit
nicht mit Süffisanz begegnen zu können. Damit bist du ganz und gar ungeeignet
für ein Callcenter. Und Schande über dich, dass du es erst jetzt merkst.
Ein bisschen neidisch bist du schon auf die anderen, die dort weiterhin ihr
Geld verdienen können. Vielleicht brauchen sie es nur dringender als du. Du
wünschst dir auch, du könntest, wie ein Hamster im Laufrad, weiterhin in diesem
Job bleiben, aber du bist nicht tapfer genug, um neben ihnen um die Wette auf
der Stelle zu treten, und zu sehen, wie die Wand daneben sich niemals ändert
und wie die selbe Speiche mit dem roten Fleck immer wieder an dir vorbeikreist.
Vielleicht haben sie dich zum Schluss auch dafür verachtet, dass deine Stimme
deine Stimmung verraten hat und deine Stimmung einfach niedergeschlagen war.
Aber dir ist das egal, du willst nicht einmal sauer auf sie sein. Du lehnst
dich zurück und wartest auf den Augenblick, wenn du sie verachtest, weil ihnen
ihr Job anscheinend ernsthaft gefällt und auf den Augenblick, wenn du sie
bemitleidest, weil sie anscheinend vergessen haben, dass es Jobs außerhalb des
Callcenters gibt, Jobs, die keine Laufräder sind.
Eines Tages schmeißt du den Job hin; und dann wirst du, als der sensible
Mensch der du bist, Existenzängste haben, du wirst dich wieder auf die Suche
machen, du wirst dich wieder irgendwo als nervöser Neuling einarbeiten müssen,
du wirst unsicher sein und nicht tapfer genug, da zu bleiben wo du warst wo du
hinter dem Gedanken stehen musst, Menschen abzuzocken. Du wirst dich trauen,
ein Angsthase zu sein.
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